Wie können Gemeinden unterstützen?
Auch Gemeinden und Mitchrist*innen können Missbrauchsopfer unterstützen
Jahre nach dem sog. „Krisenjahr“ der katholischen Kirche 2010 und nach der MHG-Studie 2018 und nach der Veröffentlichung von Gutachten und Studien gibt es immer mal wieder Nachrichten aus katholischen Kirchengemeinden, die ihre Solidarität mit kirchlichen Missbrauchsopfern zum Ausdruck bringen: Sie beten mit Betroffenen und für sie, schweigen mit ihnen, sammeln Unterschriften, fordern Bischöfe zu Aufklärung und Ehrlichkeit auf, verhüllen Kreuze in Kirchen, legen befristet ihre Priesterkleider ab…
Andere Mitchrist*innen sind ratlos und fragen sich: ‚Ist die Sorge um kirchliche Missbrauchsbetroffene nicht Sache der Bischöf*innen? Was können wir denn schon tun?‘ In manchen Gemeinden beginnt das Bewusstsein zu wachsen, dass nicht nur kirchlich, sondern auch außerkirchlich Betroffene – z.B. Menschen, die in ihren christlichen Familien missbraucht wurden – längst mitten in den Gemeinden dabei sind. Auch da fragen sich Gemeindemitglieder: ‚Kann ich, können wir etwas tun?‘ Die schlichte Antwort ist „Ja“.

Wer ist betroffen?
Wenn Ihr Verwandten- und Bekanntenkreis etwa 100 Personen umfasst, kennen Sie 9 Frauen und 5 Männer, die als Kinder zwischen Null und 14 Jahren missbraucht wurden. In einer Seelsorgeeinheit von 10.000 Katholik*innen, von denen 5,9 % zum Sonntagsgottesdienst gehen, sind statistisch 82 Betroffene von Kindesmissbrauch darunter, 61 weibliche und 21 männliche Missbrauchsopfer.
Zugehörigkeit als Lebensthema Betroffener
Missbrauchsopfer fragen: Wo gehöre ich dazu? Wo finde ich Heimat? In der sexualisierten Gewalt haben sie erlebt, dass niemand rettete, auch Gott nicht.
„Die Zerstörung von Beziehungen ist kein Sekundäreffekt des Traumas, wie man ursprünglich glaubte. Traumatische Ereignisse wirken sich nicht nur direkt auf die psychischen Strukturen aus, sondern ebenso auf Bindungen und Wertvorstellungen, die den einzelnen mit der Gemeinschaft verknüpfen…. Traumatisierte fühlen sich extrem verlassen, allein und ausgestoßen aus dem lebenserhaltenden Rahmen von menschlicher und göttlicher Fürsorge und Schutz.
Nach den traumatischen Ereignissen beherrscht das Gefühl der Entfremdung und Nichtzugehörigkeit jede Beziehung, von engen familiären Bindungen bis zu eher abstrakten Bindungen an gesellschaftliche und religiöse Gemeinschaften.“ (Herman, Judith: Die Narben der Gewalt.Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, München 1998, S. 77-78)
Umso bedeutsamer ist, dass Betroffene sich in einer Gemeinschaft beheimaten können. In sozialer Isolation können manchmal lebenslänglich anhaltende Traumafolgen nicht gelindert werden. Für christliche Betroffene braucht es Menschen in Kirchengemeinden vor Ort, die offene Ohren und mitfühlende Herzen haben.
Vertrauensaufbau braucht Geduld und anhaltendes Bemühen
Eine Frau schrieb: „Vertrauen, das ist mein großes Problem. Ich kann mich ganz schwer auf Leute einlassen. Ich mache da immer so Testphasen mit den Menschen, die mir näher kommen. Das kann schon mal zwei bis drei Jahre dauern.“

So oder so ähnlich berichten es betroffene Frauen und Männer. Sie „testen“ die Menschen ihrer Umgebung. Ihr Vertrauen wurde in der Gewalt missbraucht und es dauert lange, bis es neu aufgebaut werden kann. Betroffene brauchen Geduld, bis sie Vertrauen schöpfen können. Auch Gemeinden und Christ*innen brauchen Geduld, wenn sie Betroffenen signalisieren, dass diese im Blick sind. Erschwerend kommt hinzu, dass kirchlich und außerkirchlich Betroffene den Kirchenleitungen oft gar nichts mehr glauben können. Diesen Vertrauensverlust gilt es auszuhalten, ohne auf eigenes Bemühen um Betroffene zu verzichten. Es ist gut, wenn Mitchrist*innen sich auf einen langen Prozess des Vertrauensaufbaus einstellen. In dieser Zeit werden sie vielleicht keinerlei Rückmeldung auf ihr Bemühen, Betroffene zu beheimaten, erhalten. Sie dürfen jedoch gewiss sein, dass Ihr Bemühen sehr aufmerksam von Betroffenen wahrgenommen wird. Sie warten darauf. Sie brauchen immer wieder Signale, dass ihr Leben der Rede wert ist. Erst wenn Betroffene spüren, dass es ihrem Gegenüber oder Menschen in ihrer Gemeinde ernst ist, werden sie sich zu erkennen geben – wenn sie das wollen.
Was können Gemeinden konkret tun?
Kirchengemeinden und Mitchrist*innen können sich entscheiden, die Zuschauer-Rolle zu verlassen. Wolfgang Sofsky (Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, S. 106) beschreibt die Zuschauer folgendermaßen:
„Da ist der Unbeteiligte. Er geht zügig am Ort des Geschehens vorüber, wirft allenfalls einen Blick zur Seite. Der Unbeteiligte schaut nicht hin; er sieht zu, daß er weiterkommt. Er will nichts bemerken, was ihn selbst betreffen könnte. Er tut nicht mit, und er versucht, sich innerlich herauszuhalten. Dies ist nicht mit Unkenntnis zu verwechseln. Der Unbeteiligte ist keineswegs ahnungslos. Er weiß so viel, wie er wissen will. Was er nicht weiß, das will er nicht wissen. Das aber heißt, daß er sehr wohl genug weiß, um zu wissen, daß er nicht mehr wissen will. Dafür trifft der Unbeteiligte mancherlei Vorkehrungen. Seine innere Distanz, seine moralische Teilnahmslosigkeit versteht sich keineswegs von selbst. Sie benötigt Maßnahmen des Reizschutzes, der Wahrnehmungsabwehr. Er tut etwas dafür, daß ihn die Gewalt nichts angeht. Er rüstet sich auf, entrüstet sich, hält sich den Anblick vom Leib, wehrt den unwillkürlichen Impuls ab, auf das hinzusehen, was sich nicht übersehen läßt. Was wie dumpfe Gleichgültigkeit erscheinen mag, ist mithin nicht die Voraussetzung, sie ist das Ergebnis einer überaus aktiven Passivität. Auch das Nichtstun, das Vorübereilen, das Wegsehen sind Handlungen. Sich taub zu stellen, sich selbst mit Blindheit zu schlagen, ist eine Aktivität. Je mehr die Gewalt sich aufdrängt, desto mühevoller diese Abwehr, bis der Schutzschild so abgedichtet ist, daß nichts, aber auch gar nichts mehr in sein Blickfeld geraten kann.“
Solidarität zu üben ist die Entscheidung, die Rolle der Unbeteiligten zu verlassen. Solidarisch zu sein ist ein Lernprozess. Mit fremden und eigenen Widerständen ist zu rechnen. Vor-Urteile müssen hinterfragt werden. Ängste sind zu überwinden. Dieser Prozess braucht Mut und Ausdauer und einen sehr langen Atem. Ein „Lohn“ bleibt oft lange Zeit aus. Aber eine Gewissheit dürfen solidarische Menschen haben: Gott geht mit ihnen diesen Weg – sie gehen ihn nicht alleine.
Daher ist es auch gut, betroffene und nicht-betroffene Frauen und Männer zu suchen, die diesen „Übungsweg Solidarität“ mitgehen und einander unterwegs stärken können.
Wer seinen Glauben mit dem Leid von Menschen – auch von Missbrauchsbetroffenen – konfrontiert, stellt sich die Frage, wie denn noch und überhaupt von Gott gesprochen werden kann im Angesicht von Leidenden in Gottes Welt. Dabei kann es nicht um versöhnliche, glättende Aussagen gehen, die das Leid von Menschen kleinreden, um Gott groß machen zu können. Nach Auschwitz gibt es diesen Weg unwiderruflich nicht mehr. Wer von Gott sprechen oder stammeln will, kann nicht an der „Landschaft aus Schreien“ (Nelly Sachs) vorbeigehen. Die Fragen der Leidenden sind gemeinsam mit ihnen vor Gott zu bringen. Missbrauchsbetroffene, die Halt im christlichen Glauben suchen, sind ihrerseits fähig, banale und lebensferne Gottesvorstellungen in Frage zu stellen und nach tragenden Perspektiven zu suchen. Sie helfen, die offenen Fragen an Gott wach zu halten.
Wenn im Gottesdienst immer wieder einmal ein Klagepsalm gebetet wird, können Betroffene eine Sprache für ihr Leid finden. Wenn immer wieder einmal eine Fürbitte für Betroffene und ihre Begleiter*innen gesprochen wird, dann erfahren Betroffene, dass ihr Leben „der Rede wert“ ist.
Wer sexualisierte Gewalt erlebt hat, bleibt mit dem Gefühl zurück, von allen Menschen getrennt zu sein, nirgends mehr dazuzugehören und heimatlos zu sein. Die innere Verbindung zu anderen Menschen ist gekappt. Immer wieder berichten Betroffene, dass für sie das Gefühl, nirgends mehr dazuzugehören, nirgends daheim sein zu können, zu den am meisten bedrückenden Traumafolgen gehört. Jörg Fegert, Ulmer Psychotherapeut, berät seit Jahren die Katholische Kirche im Umgang mit Missbrauchsfällen. Er sagt:
„Seelisches Leid ist häufig mit sozialer Isolation, mit beeinträchtigten und belasteten Partnerbeziehungen verbunden. Betroffene als dazugehörig zu betrachten, sie im Dazugehören zu unterstützen, ist aus meiner Sicht die zentrale Aufgabe.“
Betroffene von Gewalt – körperlicher, psychischer, sexualisierter, spiritueller Gewalt – im Dazugehören zu unterstützen, ist auch Aufgabe der christlichen Gemeinde und der Christ*innen. Sie müssen nicht auf Bischöfe und andere Kirchenverantwortliche warten – sie können heute damit beginnen und wissen, dass das, was für Gewaltbetroffene gut ist, auch für andere marginalisierte Menschen – Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende, Obdachlose, Menschen mit Behinderung, Flüchtlinge … gut ist.
Für nicht wenige Mitchrist*innen ist die Bibel ein fremdes, befremdliches und oft unverständliches Buch. Das muss nicht erstaunen. Es dauerte ein Jahrtausend, bis dieses Buch geschrieben war. Zwischen ihm und uns liegen 2000 Jahre. Es entstand in einem uns unvertrauten Kulturkreis. Es bedarf der Übersetzung in unsere Zeit und unsere unterschiedlichen Situationen, um es für uns heute zum Sprechen zu bringen. Es braucht Wissen um die Zeit und Situation der Autor*innen und der ursprünglichen Adressat*innen. Zugleich ist es ein Buch, das vielfältige Erfahrungen unterschiedlichster Menschen und Menschengruppen mit Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung zur Sprache bringt.
Im Zentrum des Christentums steht Jesus von Nazaret, ein Opfer von Menschengewalt. Gerade – aber nicht nur – im Alten Testament werden Gewalterfahrungen von Menschen beschrieben – sie werden aufgedeckt, nicht zugedeckt. Das Alte Testament ist voll mit Erzählungen von Gewalt, von Flucht und Vertreibung, Krieg, kollektiver Unterdrückung und individueller Ausbeutung. Es macht auch nicht Halt vor der Beschreibung sexualisierter Gewalt. Daher wird vor allem dem Alten Testament oft vorgeworfen, es sei ein gewalttätiges Buch. Das ist ein Missverständnis: Nicht das Erzählen von Gewalt ist gewalttätig – es sind die Menschen, von deren Gewalttätigkeit berichtet wird. Die Gewalt wird aufgedeckt, nicht zugedeckt.
Der Theologe Frank Crüsemann formulierte pointiert: „Es bestätigt sich dabei aufs Neue, dass Gott, wie ihn die Bibel zeichnet, gerade und vielleicht überhaupt nur aus der Perspektive der Unterdrückten, der Opfer von Gewalt sachgemäß erfahren werden kann.“
Hier finden Sie einige Anregungen. Wenn Sie beginnen, biblische Texte aus der Perspektive derer, die unter die Räuber gefallen sind, zu lesen, können diese Texte lebendig werden und ins Gespräch mit dem Leben heutiger Menschen – auch mit Ihrem Leben – kommen.
Vielleicht können sich in der Gemeinde oder im Bezirk Menschen zu einer Arbeitsgruppe zusammenfinden, die der Frage nachgehen: „Wie spricht die Bibel von Gewalt?“ Theolog*innen können dabei unterstützen, eine öffentliche Themenreihe ist denkbar. Für die selbständige Arbeit eines Bibelkreises zum Thema „Gewalt in der Bibel“ kann das Buch von Thomas Hieke und Konrad Huber hilfreich sein: „Bibel umgehen. Provokative und irritierende Texte der Bibel erklärt“.
Seit den 80er Jahren gerät in den Blick, was Vergewaltigung und Kindesmissbrauch im Leben mit anhaltenden Traumafolgen anrichtet. Es gibt aus Kirche und Gesellschaft viele Berichte Betroffener. Dennoch fehlt noch immer Wissen um Trauma und Traumafolgen. Sie könnten in Gemeinden oder im Dekanat Fortbildungen dazu anbieten und öffentlich dazu einladen. Fachleute z.B. von Beratungsstellen haben viel Erfahrung mit den Anliegen Betroffener. Betroffene werden aufmerken, wenn sie von solchen Informationsveranstaltungen hören.
Noch Anfang 2022 hat der frühere Offizial des Erzbistums Köln, Assenmacher, vor Gericht ausgesagt, Missbrauchsvorwürfe könnten heutzutage auch einfach mithilfe einer Internetrecherche zusammengeschrieben werden. Es gebe wohl auch Menschen, die auf diese „Tour“ zu Geld gekommen seien – also zu kirchlichen Anerkennungszahlungen für Missbrauchsbetroffene. „Wenn man mit Geld winkt, muss man auch immer damit rechnen, dass die falschen Leute sich melden“, so der Kirchenrechtler. Damit kolportiert er die Ansicht, Missbrauchsbetroffene seien gar keine Opfer, sondern Lügner und zudem geldgierig. So offen werden Opferbeschuldigungen kaum noch öffentlich ausgesprochen, aber sie sind natürlich nach wie vor im Untergrund virulent. Gut vorstellbar ist, dass Betroffene sich in einem solch opferfeindlichen Kontext sicher nicht zu erkennen geben.
Wenn Sie Opferbeschuldigungen widersprechen, signalisieren Sie Betroffenen Ihre Solidarität. Das ist für Betroffene eine wichtige und gute Erfahrung, weil sie in Ihrem Widerspruch Zugehörigkeit erfahren.
Für Missbrauchsüberlebende ist es schwierig, sich selbst als Betroffene zu outen. Es ist entsetzlich schwer, außerhalb einer Therapie von der eigenen Geschichte zu sprechen. Betroffene fürchten, dass sie auf die Rolle eines Opfers festgelegt werden, wenn sie sich zu erkennen geben. Sie fürchten isoliert zu werden oder beschuldigt zu werden, irgendwie an dem Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Sie fürchten aufgefordert zu werden, doch dem Täter zu vergeben. Da braucht es Menschen, die Betroffenen eine Stimme geben. Voraussetzung ist, dass Betroffenen die entscheidende Frage gestellt wird: „Was willst du, das ich dir tun soll?“ Was brauchst du? Was brauchen Sie? Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, Betroffene erneut zu bevormunden – und sie und ihre Bedürfnisse zu verfehlen. Im guten Fall können Sie Betroffene gewinnen, die Sie beraten und auf die unterschiedlichen Bedürfnisse Betroffener aufmerksam machen. Kennen Sie keine Betroffenen – zumindest nicht bewusst -, so lesen Sie die vielen Berichte, die Betroffene inzwischen gegeben haben.
Wenn Sie in Ihrer Kirche ein Faltblatt auslegen mit Kontaktdaten regionaler Beratungsstellen, erfahren Betroffene, dass sie im Blick der Gemeinde sind. Vielleicht gibt es auch innerhalb der Gemeinde eine Frau und ein Mann, die sich als Ansprechpersonen für Betroffene kenntlich machen – mit Bild und Kontaktmöglichkeiten. So kann eine auch anonyme Gruppe Betroffener und ihrer Verbündeten entstehen, die die Einsamkeit und Isolation der Betroffenen reduzieren hilft.
Gemeinden können durch Gottesdienste signalisieren, dass sie die Perspektive Betroffener einüben. Der Gebetstag für Missbrauchsopfer um den 18.11. herum, den der Papst vor vier Jahren eingerichtet hat, kann ein Anlass sein, das Leben Betroffener zu thematisieren. Auch das Durchschauen der katholischen Perikopenordnung eines Lesejahrs oder der evangelischen Predigttexte kann Anregungen geben, während des Kirchenjahres die Perspektive Betroffener besonders in den Blick zu nehmen. Auch im Kontext eines weltlichen Gedenktags kann in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen – am Internationalen Frauentag, am Weltkindertag, am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen – ein (Klage-)Gottesdienst gestaltet werden. Sie können auch Fachpersonen aus Beratungsstellen einladen, zum Thema „Gewalt“ zu predigen.
Viele Betroffene leben in prekärer finanzieller Situation, die eine Folge eines beeinträchtigten Lebens nach Missbrauch ist. Vielleicht entsteht ein Solidaritätsfonds, in den Engagierte – auch Pfarrer – einzahlen und damit das Zeichen setzen: Wir lassen uns unsere Solidarität etwas kosten.