Müssen Missbrauchsopfer vergeben?

Müssen Opfer den Missbrauchstätern vergeben?
Die biblischen Texte des Alten und Neuen Testamentes setzen sich immer wieder mit persönlicher und struktureller Gewalt auseinander. Diesseits von Eden beginnt die Gewalt mit einem Brudermord.
Die Ägypter versklaven die Hebräergruppe. Die Babylonier zerstören Jerusalem und den Tempel als spirituelles Zentrum des Judentums. Die Psalmen, das Gebetbuch der Juden und Christen, führen Klage über individuell und kollektiv erlittene Gewalt. Die Propheten werden nicht müde, Gewalt und strukturelles Unrecht anzuprangern.
In Jesus von Nazareth haben wir ein Opfer von Menschengewalt vor uns. Das Markusevangelium als ältestes Evangelium ist im Angesicht der Toten und Versklavten des jüdischen Krieges geschrieben.
Kurz: Die Gründungsdokumente der Christ*innen sind voller Berichte von traumatogenen Ereignissen. Wo es Gewalt gibt, kommt die Frage nach Schuld und Vergebung auf. Sie wird in der Bibel vielfältig reflektiert. Auf einige biblische Texte weise ich Sie hin.
Vergebung im Alten Testament
In der hebräischen Bibel ist es zuerst und vor allem Gott, der vergibt. Ausgedrückt wird das mit dem Verb סלח (gesprochen: salach). Das einzig mögliche Subjekt zu diesem Verb ist Gott, denn nur Gott kann vergeben.
Nehmen Sie die Geschichte des ägyptischen Josefs. Seine Brüder hatten ihn misshandelt und als Sklaven verkauft. Die Tat der Brüder hat das gesamte Leben Josefs unwiderruflich geprägt. Nach dem Tod des Vaters haben die Brüder Angst, dass Josef ihnen das Böse vergelte, das sie ihm angetan haben.
Sie bieten ihm sozusagen zur Entschädigung an, seine Knechte zu werden. Auf die Angst der Brüder, versklavt zu werden, reagiert er mit dem Satz: „Fürchtet euch nicht!“ Diesen Satz wiederholt er sogar und verspricht, er selbst werde für sie und ihre Kinder sorgen und er tröstete sie und redete ihnen zu Herzen. Josef wird also den Brüdern nicht vergelten, was sie ihm angetan haben.
Dann sagen sie zu Josef: „Dein Vater hat uns, bevor er starb, aufgetragen: So sagt zu Josef: ‚Vergib doch deinen Brüdern ihre Untat und Sünde, denn Schlimmes haben sie dir angetan!'“
Ob der Vater, Jakob, seinen Söhnen diesen Auftrag tatsächlich gegeben hat, ist unklar. Nirgends in der Josefsgeschichte lesen wir nämlich, dass Jakob etwas davon erfährt, was seine Söhne dem Josef angetan haben. Vielleicht wollen die Brüder einfach nur die Autorität des inzwischen verstorbenen Vaters Jakob nutzen und sich hinter dem Vater verstecken.
Auf die Bitte der Brüder um Vergebung – eigentlich auf die Bitte Jakobs – reagiert Josef mit der Rückfrage an die Brüder: „Stehe ich denn an Gottes Stelle?“ Diese Frage ist natürlich nur mit „Nein!“ zu beantworten: Josef steht nicht an der Stelle Gottes. Das bedeutet: Es ist nicht seine Aufgabe, den Brüdern zu verzeihen. Denn: Verzeihung ist die Sache Gottes. Im hebräischen Text müsste zudem das Verb סלח (salach) stehen, wenn die Brüder tatsächlich um Vergebung gebeten hätten.
Da steht aber das Verb נשׂא (nasa). Es bedeutet: tragen, aufheben. Der Alttestamentler Magnus Steiner weist darauf hin, dass die Brüder also gar nicht um Vergebung gebeten haben. Der hebräische Ausdruck פֶּשַׁע שָׂא נָא (gesprochen: sa na päscha) heißt wörtlich übersetzt: „Trage doch die Untat!“ Und das hat Josef ja getan, er hatte keine Wahl. Er hat die Untat und Sünde und die Folgen der Sünden der Brüder, die sein gesamtes Leben prägten, getragen. Aber vergeben muss er ihnen nicht. Hier ist Vergebung die Sache Gottes.
Vergebung im Neuen Testament
Jesus verzeiht nicht – er bittet seinen Vater, den Mördern zu vergeben. Werfen wir einen Blick ins Neue Testament, auf Jesus. „Sterbend am Kreuz vergibt Jesus selbst seinen Mördern (Lukas 23,34).“ So ist es in manchen Predigten zu hören und so steht es im Pfarrbrief-Service der deutschen Bistümer. Das dort dazu angebotene Bild zeigt, wie ein Mensch an seine Nicht-Vergebung gekettet ist und zugleich selbst den Schlüssel zur Befreiung von diesen Ketten in der Hand hält.
Der Schlüssel zur Befreiung heißt „Vergebung“. Der Text des Pfarrbriefservices der dt. Bistümer verspricht noch etwas: „Vergebung befreit und ermöglicht einen neuen Anfang.“ Die Überschrift „Mach dich frei – vergib!“ macht klar, dass es um die Befreiung dessen geht, dem Unrecht geschah. Vergebung ist hier die Tat des Opfers. Allein von ihm hängt es ab, ob es frei wird.
Wer jedoch den Text bei Lk 23,34 liest, liest etwas ganz anderes: Da steht nämlich gar nicht, dass Jesus seinen Mördern vergibt. Da steht: „Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“2. Damit steht Jesus in der Tradition seines Volkes: Es ist die Sache Gottes zu vergeben. Jesus übergibt die Vergebung also an Gott.
Da, wo Menschengewalt also ein ganzes Leben beeinträchtigt und prägt wie beim ägyptischen Josef oder ein Leben vernichtet wie bei Jesus von Nazareth – da ist Vergebung die Sache Gottes.
Sie sehen an den Übersetzungen bzw. Interpretationen, wie übermächtig der Wunsch der Umgebung ist, dass die Opfer doch vergeben sollen – gegen jeden Textbefund und bis in unsere Tage hinein. Dies begegnet uns auch in den Vergebungsaufforderungen an Missbrauchsbetroffene. Nicht die Täter und ihre Helfer werden zu Umkehr, Reue, Bekenntnis und Wiedergutmachung aufgefordert – die Opfer werden zur Vergebung aufgerufen.
Umgang mit Konflikten in der matthäischen Gemeinde (Mt 18)
Nun gehört Vergebung aber doch zum Kernbestand des Christentums. Daher will ich auf Mt 18 schauen, ein Kapitel, in dem unterschiedliche Konflikte der matthäischen Gemeinde behandelt werden. Wo es um Konflikte geht, geht es auch um Vergebung.
Das gesamte Kapitel leitet Matthäus ein mit der Frage der Jünger: „Wer ist denn im Himmelreich der Größte?“ Das ist die klassische Machtfrage. Als Antwort stellt Jesus ein Kind in die Mitte: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder (Παιδίον/paidion), werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen. … Wer ein solches Kind (Παιδίον) in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf.“ (VV. 18, 3-4). Die griechischen Begriffe, die Matthäus für Kinder verwendet, paidion und mikron, bezeichnen tatsächlich Kinder. Wir werden noch sehen, wie Kommentare zum 8. Kapitel des Matthäus diesem Befund ausweichen.
Der folgende Abschnitt ist vermutlich ein echtes Jesuswort.
Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt würde. 7 Wehe der Welt mit ihrer Verführung! Es muss zwar Verführung geben; doch wehe dem Menschen, der sie verschuldet! (Mt 18,6-7)
Ich weise Sie auf die redaktionelle Überschrift der Einheitsübersetzung von 1980 hin, die nicht zum Bibeltext gehört: Warnung vor der Verführung und der Versuchung von Jüngern.
In Kommentaren zu diesem Jesuswort steht häufig, dass mit den Kleinen die Jünger Jesu gemeint seien, die durch Leute außerhalb der christlichen Gemeinde zum Abfall vom Glauben verführt würden. Aber es geht im Text weder um Jünger, noch um den Versuch, Christen durch Einflüsse von außen dem Glauben abspenstig zu machen. Es geht um Kinder, um Minderjährige (Ansgar Wucherpfennig).
Die Übersetzung von 1980 spricht von der „Verführung zum Bösen“. Das suggeriert eine irgendwie schuldhafte Beteiligung des Verführten.
Schauen wir auf die Einheitsübersetzung von 2016.
Dort ist nun diese „Verführung zum Bösen“ nicht mehr im Bibeltext zu finden, jedoch immer noch in der redaktionellen Überschrift. Ohne „Blaming the victim“ scheint auch die Einheitsübersetzung von 2016 nicht auszukommen. Immerhin verwendet sie nun statt „zum Bösen verführen“ den Begriff „Ärgernis geben“. Im griechischen Text steht dafür das Verb „σκανδαλίζειν“ (skandalizein) bzw. das Nomen σκάνδάλων (skandalon). Von daher stammt unser Wort Skandal. Ein σκάνδάλων ist ursprünglich ein Fallholz, das z.B. bei der Jagd einem Tier zwischen die Beine geworfen wird, damit es hinkt, strauchelt und verletzt oder halbtot liegenbleibt. Das Verb „skandalizein /Ärgernis geben“ bedeutet also: Jemanden zu Fall bringen. Im jüdischen und biblischen Sprachgebrauch werden die Begriffe σκανδαλίζειν bzw. σκάνδάλων häufig im sexuellen Sinn benutzt. Zur Zeit des Matthäusevangeliums wurden Kinder zu Fall gebracht durch Vernachlässigung, grausame Erziehungsmaßnahmen, Kinderarbeit, Anleitung zu Bettelei und Kriminalität – aber eben auch durch sexuellen Missbrauch (Ansgar Wucherpfennig). Matthäus fügt dem „Ärgernis geben“, d.h. dem zu-Fall- Bringen von Kindern einen Weheruf an: „Wehe (οὐαὶ grch.) der Welt, … wehe dem Menschen, durch den der Skandal verursacht ist.“ Der NTler Ansgar Wucherpfennig vermutet, dass Matthäus mit dem Weheruf die christliche Diaspora im Blick hat. In Palästina war sexueller Kindesmissbrauch eindeutig verboten. Der Apostel Paulus z.B. schreibt im Brief an die korinthische Gemeinde, dass Knabenschänder das Reich Gottes nicht erben werden. Die ersten Christengemeinden, die in der griechisch-hellenistischen Welt lebten, waren mit einer Umgebung konfrontiert, in der sexuelle Beziehungen zwischen Männern und jugendlichen Jungen üblich waren und zwischen Lehrern und Schülern sogar eine anerkannte Erziehungsmaßnahme darstellten. Matthäus will verhindern, dass die jungen Christengemeinden in der hellenistischen Diaspora aus ihrer Umgebung ein Verhalten übernehmen, das Kinder schädigt. Weherufe gehören ursprünglich in den Kontext einer Totenklage. Wenn Jesus also hier einen Weheruf (grch. οὐαὶ -ouai; althebr.הוי hoj) verwendet, dann vermittelt er, dass ein Mensch, der Kinder zu Fall bringen will, besser tot wäre. Eindringlicher kann eine Warnung nicht ausgesprochen werden. Von Vergebung spricht Matthäus hier nicht.
An den Weheruf schließt Matthäus einen Rat an, der die Dringlichkeit wiederholt: „Wenn dir deine Hand oder dein Fuß Ärgernis gibt, dann hau sie ab und wirf sie weg. (VV 8; 9)“ Auch hier wird wieder im Griechischen das Wort „skandalizein“ gebraucht. Wenn Mt von „deiner“ Hand und „deinem“ Fuß spricht, wendet er sich direkt an seine christlichen Hörer*innen. Das „Ärgernis“ kommt also gerade nicht von außen, wie Kommentatoren immer wieder sagen. Das Ärgernis kommt von den Christen selbst, aus dem Inneren der Gemeinde (1 Kor 6,9).
Noch einmal sagt Jesus, dass diese Kleinen (V. 10, μικρος) nicht verachtet werden dürfen, denn ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht des himmlischen Vaters Jesu. Mt. weiß also, dass Kinder des besonderen Schutzes bedürfen und er setzt den himmlischen Vater als Garanten dieses Schutzes ein. Das macht als Argument natürlich nur dann Sinn, wenn die Adressaten dieses Hinweises Christen sind, also gerade nicht Menschen aus der nicht-christlichen Umgebung.
Im Anschluss an die Warnung, die Kinder nicht zu Fall zu bringen, steht das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Der Hirte geht dem einen verlorenen Schaf nach. In diesem Gleichnis geht es in der Version des Lukas um Sünder und ihre Umkehr (Lk 15,3-7). Bei Matthäus jedoch „ist die Geschichte eines verlorenen Schafes die Geschichte eines verlorenen Kindes“, denn er betont noch einmal: „Es ist nicht der Wille eures himmlischen Vaters, dass eines dieser Kleinen verloren gehe.“ (V. 14: μικρος). Missbrauchsopfer fühlen sich tatsächlich oft wie „verlorene Kinder. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf bei Matthäus ist also bis heute die Aufforderung, den verlorenen Kindern, den Missbrauchsüberlebenden, pro-aktiv nachzugehen.
Matthäus stellt uns im gleichen Kapitel noch eine andere Szene vor Augen. Da heißt es: „Wenn dein Bruder sündigt [gegen dich], dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit …. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.“ (Mt 18,15-17).
Wir erfahren nicht, um welche Sünde es sich handelt. Sie muss jedoch so gravierend sein, dass sie am Ende vergeblicher Versuche, den Sünder zur Umkehr zu bewegen, einen Ausschluss aus der Gemeinde nach sich zieht. Wir erfahren also, dass es in der Gemeinde reuelose Sünder gibt, die der Gemeinde öffentlich bekannt sind. Matthäus spricht nur vom Ausschluss dieser Sünder aus der Gemeinde, von Vergebung sagt er hier kein Wort.
Allerdings sollen Ausgeschlossene wie Heiden oder Zöllner angesehen werden, also wie Menschen, die sich noch zu Jesus bekehren können. Sie werden also nicht fallengelassen. – Im Blick auf Missbrauchstäter ein bedenkenswerter Gedanke.
Mit reuelosen Tätern haben es auch Missbrauchsopfer zu tun. Kirchliche Missbrauchstäter zeigen zu 91 % keine Reue – genau wie außerkirchliche Täter. Sie leugnen, reden das Verbrechen klein, bagatellisieren, sehen sich selbst als Opfer oder beschuldigen das Opfer. Damit müssen Missbrauchsopfer leben (MHG-Studie, S. 166).
Nun fordert Jesus (Mt 18,22) im weiteren Text des Gemeindekapitels, dass Christen bis zu siebzigmal siebenmal verzeihen sollen, also unendlich oft. Wendet man dieses Jesuswort auf sexuellen Missbrauch an, dann wäre es geradezu eine Einladung an Missbrauchstäter weiterzumachen, denn die Opfer müssen ja verzeihen! Jesus wäre von einem Täter-Unterstützer nicht zu unterscheiden. Dass Jesus sich auf die Seite der Täter schlägt und vom Opfer immer wieder Vergebung eines Verbrechens erwartet, ist kaum anzunehmen. Wahrscheinlicher ist, dass bei dieser Aufforderung zur grenzenlosen Vergebung an ein alltägliches Konfliktszenario in den jungen Christengemeinden gedacht ist – wie etwa eine Lüge, Beleidigung oder Verleumdung (Gnilka: Das Matthäus-Evangelium, S. 145), nicht jedoch an ein Verbrechen.
Noch einmal die Frage angesichts des Gemeindekapitels bei Matthäus: Müssen Missbrauchsopfer den Tätern vergeben? Matthäus differenziert:
- Wo es um alltägliche Konflikte geht, wird Vergebung erwartet, auch von Missbrauchsopfern.
- Wenn es um Vergehen geht, die anhalten und schwer genug sind, einen Ausschluss aus der Gemeinde zu begründen, spricht Matthäus nicht von Vergebung.
- Wenn Mitglieder der christlichen Gemeinde in der Gefahr sind, Kinder in ihrer Vertrauensfähigkeit zu Fall zu bringen, steht kein Wort von Vergebung – vielmehr eine Totenklage Jesu über diejenigen, die Kinder missbrauchen wollen.
- Und: Im Gleichnis vom verlorenen Schaf, das bei Matthäus das Gleichnis der verlorenen Kinder ist, sieht Jesus die christliche Gemeinde in der Pflicht, den verlorenen Kindern nachzugehen.