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Biblische Texte opfersensibel auslegen

Kain und Abel

Wir sind Hüter*innen unserer Geschwister

(1. Mose/Gen 4,1-16a1)

Louis Corinth: Kain erschlägt Abel (Wikipedia commons, gemeinfrei)
Zum Bild von Lovis Corinth:

Kain erschlägt Abel

Lovis Corinth (1858 – 1925) malte das Bild „Kain erschlägt Abel“ 1917 in Berlin während des Ersten Weltkrieges, als die USA Deutschland den Krieg erklärt hatte und damit die militärische Niederlage Deutschlands besiegelt war. Festgehalten ist der Moment, in dem Kain Gott fragen hört: „Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht, soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Im Zentrum des Bildes steht Kain, der mit einem weiteren Stein den ermordeten Bruder verstecken will. Betrachtende sehen Kain aus der Perspektive des am Boden liegenden Abel. Durch diese Blickrichtung wird noch einmal die Überlegenheit und Größe Kains demonstriert. Die Vögel am Himmel – schwarze Raben als Todesvögel – kommen Kain bedrohlich nahe.

Einige Hinweise zum Text

Die Kain- und-Abel-Geschichte zeigt – nach der guten Schöpfung und der Sündenfallgeschichte –  die Schattenseite von Menschen. Von Anfang an ist der Mensch in der Gefahr, Feind seines Mitmenschen zu werden. Die Erzählung ist nicht psychologisch als Geschwisterstreit zu lesen. Vielmehr ist sie eine parabolische Erzählung, die nicht Einmaliges, sondern „Erstmaliges als Allmaliges“ erzählt.

Urzeit-Erzählungen wie die von Kain und Abel, erzählen, was „niemals war und immer ist; sie decken auf, ‚was jeder weiß und doch nicht weiß‘, und sie wollen helfen, mit diesem vorgegebenen Wissen und Wesen das Leben zu bestehen.“ Die Erzählung gehört zur vorpriesterschriftlichen Überlieferung.

Hatte Gen 3 die Zerstörung der Beziehung zu Gott zum Thema, so steht in Gen 4 die Störung der Beziehungen der Menschen miteinander im Zentrum.

Sein zu wollen wie Gott (Gen 3,1-7) – dieser Ur-Lüge des Menschen -, folgt die Gewalt als Mittel der Selbstbehauptung.

In Deutschland ist der Name Kain / קַ֔יִן wegen seiner negativen Konnotation als Vorname verboten. Seine Bedeutung ist unklar. Im hebräischen Namen klingt jedoch das Verb qnh קנה / schaffen, gründen, erwerben an. Kain ist der Erstgeborene, seine Mutter hatte bei seiner Geburt gejubelt – wohl fasziniert von ihrer Erfahrung, etwas schaffen zu können. Dem Zweitgeborenen jedoch gibt sie den geringschätzigen Namen Abel/ אבל, Windhauch, Nichts. Kain wird als Ackerbauer vorgestellt, der sich den Erdboden nutzbar macht; Abel hingegen verkörpert den Wanderhirten, der in seiner Existenz ganz von Gott abhängig ist und so ein Ideal darstellt. Nur das Opfer Abels wird als Erstlingsopfer (bəkhorāh) bezeichnet. Das Opfer einer ersten Gabe wird als Angeld des Ganzen verstanden. Nur Abel also anerkennt mit dem Erstlingsopfer, dass alles Gott gehört. In Kains Opfer der Erstlingsfrüchte (המִנְחָ֖) ist diese Anerkennung nicht mitgemeint. Abels Opfer wird von Gott mit Wohlgefallen angenommen. Kain erträgt diese Ungleichbehandlung durch Gott nicht. Die Warnung Gottes nimmt er nicht ernst – er erschlägt seinen Bruder. Von Gott zur Rechenschaft gezogen, leugnet er seine Verantwortung für den Bruder.

Mit dem Zeichen hebt Gott seinen Besitzanspruch an Kain hervor, auch dem Mörder wendet Gott sich zu. Kain jedoch entzieht sich Gott ins Land Nud (נ֖וֹד hebr. schwanken, fliehen), das Land der Heimatlosigkeit und Ruhelosigkeit.

In dieser Erzählung wird deutlich, dass der Mensch Kain und Abel zugleich ist: Mörder und Opfer. Der Mensch kann Gewalt gegen den Mitmenschen anwenden – er kann aber auch Opfer von Gewalt werden als wäre er ein „Windhauch“, ein Nichts.

Einige Hinweise aus der Perspektive Betroffener

Die Bibel verschweigt die Gewalt der Menschen gegeneinander nicht. Das entlastet: Von Gewalt darf gesprochen werden. Nach der Vertreibung aus dem Paradies wird zuallererst in der Bibel von Gewalt in ihrer ultimativen Form, einem Mord, gesprochen. Es ist nicht so, dass Kain nicht hat wissen können, dass er Gefahr läuft, seinen Menschenbruder umzubringen. Gott selbst warnt Kain im Vorfeld der Tat und fragt Kain: „Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, darfst du aufblicken; wenn du nicht gut handelst, lauert an der Tür die Sünde.  

Sie hat Verlangen nach dir, doch du sollst über sie herrschen“ (VV6-7). Aber Kain achtet nicht auf die Warnung. Unmittelbar im Anschluss an sie bereitet er den Mord vor. Wir erfahren nicht, wie Kain seinen Bruder täuscht – das Ergebnis des Sprechens ist, dass beide auf dem Feld sind. Dort ist niemand, der Kain abhalten könnte oder zumindest Zeuge des Mordes werden könnte. Auch das kennen Missbrauchsbetroffene: Sie werden von ihrer Umgebung isoliert, so dass sie niemanden zu Hilfe rufen können und es keine Zeugen gibt.

Unmittelbar nach dem Mord fragt Gott Kain: „Wo ist dein Bruder?“ Und Kain antwortet: „Bin ich denn der Hüter meines Bruders, des Hirten?“ Gott verlangt von Kain Rechenschaft und die Übernahme von Verantwortung. Und Kain tut das, was über 90 Prozent der Missbrauchstäter auch heute tun: Er weigert sich, Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Gott konfrontiert ihn: „Was hast du getan? Das Blut deines Bruders erhebt seine Stimme und schreit zu mir vom Erdboden.“ Gott hat den Schrei Abels gehört und er beantwortet ihn, indem er Kain den Mord auf den Kopf zusagt. Daraufhin bekennt Kain seine Schuld. „Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte.“ Er sieht auch seinen weiteren Lebensweg: Vor Gottes Angesicht muss er sich verbergen und rastlos und ruhelos leben.

All das unterscheidet ihn von den meisten heutigen Missbrauchstätern. Sie verbergen sich keineswegs vor Gott – manche von ihnen stehen auch am Altar und legen in Predigten das Wort Gottes aus -, sie bleiben, was sie vor den Taten waren: Angesehen und in Amt und Würden oder weiterhin unauffällige Zeitgenossen, ohne schlechtes Gewissen, im Schutz von Mitwissern und Unterstützern. Wenn sie einmal vor Gericht kommen – was nur bei einem kleinen Teil der Täter*innen geschieht -, leugnen sie häufig. Oft steht Aussage gegen Aussage, Zeugen gibt es nicht, Beweise auch nicht – am Ende gibt es einen Freispruch mangels Beweisen. Da greift kein Gott ein, der wenigstens ein wenig Gerechtigkeit herstellen könnte.

Dass der Mörder von Gott ein Schutzzeichen erhält, erleben Betroffene als ambivalent. Sie fragen: Warum hat Gott Abel nicht geschützt und warum erhält Kain, der Mörder, den Schutz Gottes? Andererseits: Wenn Gott auch den Täter, der ultimativ bösartig und verletzend handelt, schützt, dann ist davon auszugehen, dass Gott auch die, deren Schuld geringer ist, schützt. Und wieder fragen sich Betroffene, warum sie nicht von Gott vor der Gewalt des Missbrauchers/der Missbraucherin geschützt wurden. Zugleich gilt diese Frage den Eltern, den Verwandten, der Nachbarschaft, all denen, die das Kind damals aus den Fängen des Täters – vielleicht – hätten befreien können.

Dieser Bibeltext gehört zur Evangelischen Reihe III, 13. Sonntag nach Trinitatis. Anregungen wurden auch entnommen von Zenger, Erich: „Das Blut deines Bruders schreit zu mir“ (Gen 4,10). Gestalt und Aussageabsicht der Erzählung von Kain und Abel, in: Kain und Abel – Rivalität und Brudermord in der Geschichte des Menschen, hg. v. Dietmar Bader, München u. a. 1983