Die Sintflutgeschichte
Die Erde ist voller Gewalt
(Gen 6,5 – 9,17 – Lesejahr B, 1. Fastensonntag)

The Deluge
In dem Ölbild von Francis Danby, The Deluge – entstanden zwischen 1837 und 1839 – ist neben der verschwindenden Sonne und dem Chaos der Elemente vor allem der Engel im rechten unteren Bildteil bemerkenswert: Er hält sich mit den Händen die Ohren zu und geht so gebeugt, dass er nichts um sich herum mehr sehen kann, heraus aus der unerträglichen Szene von Menschen, die sich vor der Flut auf einen Felsen im Meer zu retten versuchen. Es ist, als ertrüge der Engel nicht, was er sieht und hört.
Engel sind Boten Gottes, Stellvertreter Gottes. Der Engel nimmt die Umkehr JHWHs vorweg. Er hat gesehen und gehört, was die Sintflut und damit Gott selbst den Menschen angetan hat und erschrickt über das, was er angerichtet hat.

Der Begriff „Sintflut“ kommt vom Althochdeutschen „sin“ und bedeutet „immerwährend, andauernd, umfassend“. Volksetymologisch umgedeutet wurde er zeitweise auch als „Sünd-Flut“. Mit diesem Begriff wurde die Erzählung in einen Sünden- und Strafen-Kontext gestellt. Dass es dem Sintflut-Mythos nicht um Strafe als Aussageziel geht, erweist sich am Ende der Erzählung. Weitgehende Einigkeit besteht über Anfang (Gen 6,5) und Ende der Sintflutgeschichte ( Gen 9,17). Innerhalb der Erzählung werden zwei Textebenen unterschieden: Eine Textebene wird – jeweils mit Abweichungen – dem Jahwisten zugeschrieben (6,5-8; 7,1-5.10.12.16b-17a.22-23; 8,2b-3a.6-12.13b.20-22), die zweite Textebene einem annalistischen Erzähler bzw. der Priesterschrift oder einer nachpriesterlichen Schrift (6,9-22; 7,6.11.13-16a.17b-21.24-8,1a; 8,1.2a.3b-5.13a.14.15-19; 9,1-17).
Es gibt vielfältige Bezüge zu anderen biblischen Texten und Strukturen. Hat Gott in der Schöpfungsgeschichte das Chaos geordnet, so richtet er es nun wieder an. War im Anfang „alles gut“ oder sogar „sehr gut“ (Gen 1,31), so ist nun „alles verdorben“ (Gen 6,12). Die Verderbtheit zeigt sich JHWH in der zunehmenden Bosheit der Menschen, in ihrem Sinnen und Trachten nach Bösem. „Da reute es den Herrn (JHWH) , auf der Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem Herzen weh“ (Gen 6,5-6). „Da sah Gott (Elohim) auf die Erde, und siehe, sie war verderbt; denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden. Da sprach Gott (Elohim) zu Noah: Das Ende allen Fleisches ist bei mir beschlossen, denn die Erde ist voller Frevel von ihnen; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde.“ (Gen 6,11-13) Im Original steht für Frevel das Wort חָמָֽס (gesprochen Hamas), Gewalttat.
Auch in den Erzählungen vom ersten Menschenpaar (Gen 2f) und dem Bruderpaar Kain und Abel (Gen 4) geht es um große Vergehen, die breit entfaltet werden. Zugleich jedoch wendet sich Gott in beiden Erzählungen in gewisser Weise den Menschen zu: Das erste Menschenpaar wird zwar aus dem Paradies vertrieben, aber nicht vernichtet. Gott bekleidet den Menschen und übergibt ihm den Erdboden. Der Mörder Kain wird bestraft, aber Gott stattet ihn mit einem Zeichen aus, das ihn vor Rache schützt.
In Gen 6,5-8 werden – anders als beim ersten Menschenpaar oder in der Brudergeschichte – die Vergehen nur noch summarisch genannt: die Bosheit des Menschen nahm zu, alles Sinnen und Trachten seines Herzens war immer nur böse. Aber hier findet bereits am Anfang der Erzählung ein Mensch mit seiner Sippe Gnade in den Augen Gottes: Noach (6,8). Der Name Noach (hebräisch נֹחַ ) bedeutet Ruhe.
Im Ursprung sollten die Menschen die Welt füllen (Gen 1,28; 1,22). Sie tun dies auch – aber sie erfüllen sie mit Gewalt (6,11.13). Hatte Gott in der Schöpfung gegen das Chaoswasser dem Menschen einen Lebensraum geschaffen, so bricht dieses Chaoswasser nun wieder in den menschlichen Lebensraum ein. Zuvor jedoch baut Noach auf Anweisung Gottes einen Kasten als Schutzraum und sicheren Ort für Mensch und Tier. Dabei erinnert der Kasten an eine Kleinausgabe einer sicheren Welt und an den Tempel von Jerusalem.
In Gen 6,18 schließt Gott einen Bund mit Noach, einem Einzelnen. In Gen 9,14f.16 hingegen schließt Gott den Bund mit der gesamten Welt. Es ist ein einseitiger Bund. Er gilt bedingungslos. In diesem neuen Bund mit der gesamten Welt wird für die Zukunft neu eingeschärft, dass kein Blut vergossen werden darf (Gen 9,5-6) – Gott selbst fordert Rechenschaft von jedem, der seinen Bruder tötet, denn „als Bild Gottes/ hat er den Menschen gemacht“. Eine Rechtfertigung der Todesstrafe ist von dieser Bibelstelle nicht ableitbar: „Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem, der es seinem Bruder nimmt“ (9,5b). Es ist Noahs Gehorsam gegen Gott, der die Rettung und einen neuen Anfang möglich macht – das Hören auf Gottes Wort und der Gehorsam gegenüber Gott sind es, die retten.
Im Kain- und Abel-Mythos (Gen 4,1-16) hatte Gott bereits die mörderische Gewalt des Menschen im Blick. Der Mensch jedoch hat sich nicht grundlegend gewandelt. Das Trachten des menschlichen Herzens ist nach wie vor von Jugend an böse (Gen 8,21). Hatte Gott zu Anfang der Erzählung das „Ende allen Fleisches“ beschlossen, so verspricht er nun, nie wieder alles Lebende zu vernichten. Gott selbst setzt sich eine Grenze. In einer doppelten Selbstverpflichtung (Gen 8,21 und 9,8-15) wird die Feierlichkeit dieses Entschlusses Gottes betont.
Zwischen der biblischen Sintfluterzählung und altorientalischen Überlieferungen – vor allem aus Mesopotamien – gibt es Verbindungen (Gilgemesch Epos); Sintfluterzählungen gibt es auch in anderen Kulturen (Kelten, Germanen, in Idien und China, in Indianerkulturen Nordamerikas). Sie scheinen „grundlegende Strukturen menschlicher Daseinsbewältigung“ zu verarbeiten. Fluterfahrungen liefern sozusagen Anschauungsmaterial, das in das mythische und schöpfungstheologische Erzählen der Bibel Eingang gefunden hat. Die Frage nach einer historischen Flut blieb bislang unbeantwortet und ist in einem Mythos auch obsolet. Die Sintflutgeschichte zeigt auf, dass die Menschen nicht mehr gefährdet werden sollen durch eine globale Gefahr.
So berichtet die Sintfluterzählung von Menschen, deren Gottesbild sich verändert hat. Gott wird am Ende der Erzählung erfahren als einer, der das Leben will, nicht die Vernichtung.
Einige Hinweise aus der Perspektive Betroffener

Wenn Betroffene sich auf diese Erzählung in der vorliegenden Form einlassen, erfahren sie von einem Gott, dem das Herz weh tut angesichts menschlicher Gewalt. Ihr Gott teilt den Zorn von Menschen, die Gewalt durch Menschen erleiden. Sogar als überbordend zornig wird Gott dargestellt. Alles Leben will er zur Strafe vernichten. Diesen grenzenlosen Zorn können auch manche Missbrauchsbetroffene erleben. Es tut ihnen gut, wahrzunehmen, dass nicht nur sie Zorn kennen, der sich gegen die Beschneidung oder Verunmöglichung von Leben richtet und im Dienste des Lebens steht. Auch Gott kennt diesen Zorn.
Betroffene von Menschengewalt erfahren in dieser Erzählung aber auch von einem Gott, der dem unschuldigen Menschen einen geschützten Raum, einen sicheren Ort zur Verfügung stellt, eine Arche. Noch in seinem unbändigen, vernichtenden Zorn denkt Gott zumindest an den einen Menschen, der gerecht und ohne Schuld ist und der in dem tödlichen, tobenden Chaos Sicherheit und Schutz braucht. Und Gott ermöglicht dem Menschen diesen Raum. Ohne Mithilfe des Menschen jedoch entsteht der sichere Raum nicht: Noach muss die Arche nach den genauen Anweisungen Gottes bauen. Die Höhe, die Länge, die Breite sind vorgegeben. Wenn Missbrauchsbetroffenen das Wasser bis zum Hals steht und sie dem Chaos des Wiedererlebens und der Erinnerungen ausgeliefert sind, dürfen sie gewiss sein, dass sie berechtigt sind, für sich einen sicheren Raum zu suchen – und ihn zu finden.
Missbrauchsüberlebende erfahren in dieser Erzählung auch, dass Gott ein Lernender ist. Er kann umkehren. Er kann im Angesicht des Elends von Menschen bereuen, was er ihnen angetan hat. Ein solcher Gott zeigt noch einmal Mitgefühl mit Menschen, er kann sich verändern. Nun zeigt er Mitgefühl nicht nur mit den Opfern menschlicher Gewalttätigkeit, sondern mit allen Menschen. Gott ist ein Gott, der die Menschen trotz ihrer anhaltenden Gewalttätigkeit nicht aufgibt. Er schließt mit ihnen einen neuen, einen einseitigen Bund. Die Menschen sind, wie sie sind. Sie sind auch gewalttätig – und Gott gibt sie dennoch nicht auf. Auch diese Haltung Gottes ist tröstlich für Gewaltbetroffene. Sie waren zwar unschuldig an der erlittenen Gewalt – aber ansonsten sind sie Menschen wie andere auch. Auch sie machen Fehler und begehen Sünden – und sind auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen. Das tröstet und richtet auf und lässt Ausschau halten nach einer besseren Zukunft.
1 https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/sintflut-sintfluterzaehlung/ch/f81f1be43433664677166ee3b317e7b1/#h22