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Biblische Texte opfersensibel auslegen

Die Geschichte einer Vergewaltigung

Tamar und ihr Halbbruder Amnon

(2 Sam 13,1-22)

Aus der Sicht von Erika Kerstner:

Ich will Ihnen heute die Geschichte einer Frau aus den besten Kreisen erzählen. Im Gottesdienst wird sie nie gelesen, aber sie beschreibt sehr genau die Situation einer Frau, die im Nahbereich, in ihrer Familie Opfer von sexualisierter Gewalt wird. Diese Geschichte könnte in einem modernen Fachbuch über Missbrauch in einer Familie stehen, denn sie enthält alle Merkmale, die wir heute von Missbrauch im familiären Raum kennen.

Einige Hinweise zum Text

Es geht in dieser Geschichte um eine Tochter des Königs David. Der Name der jungen Frau ist Tamar, übersetzt „Dattelpalme“. Der Name steht für Fruchtbarkeit. Tamar und ihr Bruder Abschalom hatten die gemeinsame Mutter Maacha. Beide haben einen älteren Halbbruder, Amnon. Amnons Vater ist David, seine Mutter ist Ahinoam. Sein Name אַמְנוֹן bedeutet „zuverlässig, treu“. Im Laufe der Geschichte werden wir sehen, dass die Bedeutung der Namen von Tamar und Amnon exakt in ihr Gegenteil verkehrt werden. Weder erweist sich Amnon als zuverlässig und treu, noch wird Tamar fruchtbar sein.

Tamar ist schön. Sie ist jung. Als Tochter des Königs ist sie privilegiert, eingebettet in ein bislang tragendes Beziehungsnetz. Das Leben liegt vor ihr. Sie bringt die besten Voraussetzungen und Bedingungen für ein glückliches und erfülltes Leben mit. Aber dann geschieht etwas, das ihre Zukunftshoffnungen mit einem Mal zerschlägt. Alle. Das, was geschieht, wird sie bleibend „starr vor Entsetzen“ machen. Nichts in ihrem Leben wird mehr sein, wie es war.

Der Tag, der ihr Leben unwiderruflich verändern würde, hat ein Hintergrundgeschehen, von dem Tamar aber nichts weiß. Jonadab, ein Cousin von Amnon, – die Bibel nennt ihn einen „sehr klugen Mann“ – spricht Amnon darauf an und fragt, warum er so bedrückt sei. Amnon erzählt, dass er seine Halbschwester Tamar liebe. Jonadab schlägt Amnon vor, sich krank zu stellen und Tamar bitten zu lassen, ihm, dem vermeintlich Kranken, das Essen zuzubereiten.

König David besucht den kranken Ältesten, den Thronfolger. Wie mit Jonadab verabredet, bittet Amnon seinen Vater, Tamar zu ihm zu schicken und sein Essen zuzubereiten. David schickt jemanden zu Tamar und lässt ihr den Wunsch Amnons ausrichten. Und natürlich erfüllt Tamar den Wunsch! Er kommt ja von ihrem kranken Bruder. Tamar ist nicht nur hilfsbereit, sie ist auch arglos. Sie schöpft keinen Verdacht, sie misstraut ihrem Bruder nicht, natürlich nicht! Er ist ja ihr Bruder! Erst als Amnon alle Diener weggeschickt hat und Tamar packt und sagt, er wolle mit ihr schlafen, erst da schätzt sie die Situation richtig ein. Und sie beginnt zu argumentieren: Sie erinnert ihn an seine moralische Verantwortung, an seinen guten Ruf, der verloren wäre, wenn er sie vergewaltigt. (Dass sie sich dabei täuscht, ahnt sie noch nicht.) Sie erinnert ihn an den Ehrenkodex ihres Volkes: „Das tut man nicht in Israel!“ Sie sucht nach einer Lösung und schlägt Amnon vor, dass er doch König David um die Heirat bitten könne. Der würde die Zustimmung sicher nicht verweigern (vgl. Dtn 22,28-29). Im Text ist noch die Atemlosigkeit ihres Argumentierens spürbar. Nicht der Thronfolger hat die Tora vor Augen – es ist Tamar, die den Täter an die Tora erinnert!

Aber Amnon hört nicht auf Tamar. Er will nur eins – und das tut er dann auch: Tamar vergewaltigen. Er „tat ihr Gewalt an und demütigte sie und schlief mit ihr“, steht in der Übersetzung. Im Original steht für den Ausdruck „er demütigte sie“ das Verb  וַיְעַנֶּ֔הָ Es bedeutet wörtlich: „eine Frau durch Vergewaltigen schwächen“. Danach ist sein Hass auf Tamar größer als es zuvor seine Liebe zu ihr war. Damit wird sehr deutlich, dass es gerade nicht um Liebe ging, nicht einmal um Sexualität – es ging um Hass, Zerstörung, Machtausübung eines Mannes über eine Frau.

Amnon befiehlt seinen Dienern, „dieses Mädchen da“ hinauszuwerfen und die Türe hinter ihr abzuschließen. In der Einheitsübersetzung versuchen die Übersetzer*innen noch, die ganze Verachtung und Objekt-Machung Tamars durch ihren Halbbruder abzuschwächen, indem sie sie „dieses Mädchen da“ übersetzen. Im Original hingegen spricht Amnon nur von „dieser da“. Noch einmal argumentiert Tamar: „Nicht doch! Wenn du mich wegschickst, wäre das ein noch größeres Unrecht als das, das du mir schon angetan hast.“ Sie scheut sich nicht, vor ihrem Bruder zu benennen, was ihr durch ihn geschah: ein großes Unrecht.  Und sie benennt, dass noch ein größeres Unrecht geschieht, wenn Amnon sie wegschickt – eine mutige Frau, die dem Täter ins Angesicht sagt, was er tat.

Tamar steht auf der Straße, schreit, streut sich Asche aufs Haupt und zerreißt ihr Kleid (das Jungfräulichkeit signalisierte). Sie vollzieht also in aller Öffentlichkeit die Totenklage über sich selbst1, denn die Vergewaltigung bedeutet ihren sozialen Tod. Sie schreit laut. Wird sie nicht gehört? Von niemandem? Jedenfalls geht niemand zu ihr und fragt sie, was los ist. Keine Mutter, keine Schwester, keine Cousine, keine Tante, keine Freundin, niemand. Ginge jemand zu ihr und solidarisierte sich so mit ihr, würde er oder sie sich mit dem König anlegen, es sich mit Amnon verderben und mit allen, die zu Amnon halten. Auch hier gilt, was schon von Jonadab gesagt wurde: Es sind „kluge Leute“. Sie mischen sich lieber nicht ein. Sich-Einmischen hätte Folgen. Und die vermeiden sie, wenn sie sich blind und taub stellen.

Tamars Bruder Abschalom weiß schon Bescheid. Nur noch pro forma fragt er sie, ob ihr Bruder bei ihr gewesen sei. Das auch neutral zu verstehende „bei/mit jemandem sein“ ist geeignet, das Verbrechen zu verharmlosen und die Gewalt zu verdecken. Und Abschalom gibt seiner Schwester den Rat, der bis heute Betroffenen gegeben wird: „Schweig still! Er ist ja doch dein Bruder!“ Abschalom appelliert an die Familienloyalität Tamars, an die fehlende Loyalität der Familie mit Tamar denkt er nicht. Schließlich beteiligt sich Abschalom an der Verharmlosung der Gewaltfolgen: „Nimm’s dir nicht zu Herzen!“

Hinter Tamars Rücken jedoch wird getuschelt. So viel, dass auch König David davon hört. Da könnte jetzt Hoffnung aufkommen, denn David wird „sehr zornig“! Aber sein Zorn über das Unrecht hat keine Folgen. Er spricht nicht mit seinem Sohn, dem Täter, von dem es heißt, er liebte ihn, weil er ja doch der Erstgeborene war. Schon gar nicht spricht er mit seiner Tochter, dem Opfer. Sie liebte er offensichtlich nicht. Tamar interessiert ihn einfach nicht. Und Gerechtigkeit für sie ist ihm gleichgültig.

Das Letzte, was wir von Tamar hören, ist die kurze Beschreibung eines Lebens mit den Folgen von Menschengewalt: „So blieb Tamar einsam im Hause ihres Bruders Absalom.“ So steht es in der Einheitsübersetzung. Im Original wird für „einsam“ das Verb „schamam“ verwendet, das wörtlich bedeutet „starr sein vor Entsetzen“. Das ist nochmal was anderes als einsam zu sein. So versuchen auch die Übersetzer*innen noch einmal, die Folgen der Gewalt kleiner zu machen als sie tatsächlich sind. Amnon wäre nach der Vergewaltigung verpflichtet gewesen, Tamar zu heiraten. Das verweigert er – und Tamar hat als vergewaltigte Frau keine Möglichkeit einer Heirat mehr. Sie wird unfruchtbar bleiben – in Israel eine Schande.

Im Haus des Königs David gibt es eine ganze Tradition sexueller Gewalt. David vergewaltigt Batseba, die Frau des Heerführers Urija. Heute würden wir das sexuellen Missbrauch in einem Abhängigkeitsverhältnis nennen. David lässt Urija zur Vertuschung des Verbrechens umbringen. Abschalom schläft – übrigens am gleichen Ort, an dem Batseba von David vergewaltigt wurde – im Zuge von Thronstreitigkeiten mit den Frauen seines Vaters – vor den Augen Israels. So dokumentiert er seinen Anspruch auf den Thron.

Das Verbrechen Amnons und die Folgen für Tamar erfüllen alle Voraussetzungen dafür, dass nie etwas davon an die Öffentlichkeit kommt, weil alle die Tat und die Folgen vertuschen und Tamar nicht gehört wird. Wäre da nicht der Bibeltext im 2. Samuelbuch. Dort jedenfalls ist bis heute öffentlich, was der Täter und alle seine Helfer und Unterstützer verbergen wollten. Das Verbrechen an Tamar ist bis heute bekannt, der Täter wird benannt, seine Helfer und Unterstützer auch. Gerechtigkeit für Tamar ist das noch nicht – aber ein Anfang.

Vgl. Silvia Schroer: Trauerriten und Totenklage im Alten Israel. Frauenmacht und Machtkonflikte, in: Angelika Berlejung, Bernd Janowski (Hg.): Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt. Theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte, 2009, S. 299-321