"Das schreit zum Himmel!"

Solidarisches Gebet mit Missbrauchsbetroffenen am 18.4.2023 in Karlsruhe
Am 18.4.2023 wurde der Bericht der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Erzbistum Freiburg vorgestellt. Die Kommission hat 24 „Fälle“ untersucht, um die Strukturen der systematischen Vertuschung durch die Erzbischöfe Saier und Zollitsch (1978 – 2013) sichtbar zu machen. Von mindestens 540 bekannten Betroffenen und ca 250 Priester-Tätern muss im Erzbistum Freiburg ausgegangen werden – ohne Dunkelziffer. In jeder zweiten der ca 1000 Pfarreien dieses Bistums gibt es statistisch (mindestens) eine/n kirchlich Betroffenen – und natürlich viele weitere Betroffene, die Missbrauch in ihren Familien – auch christlichen! -, Schulen, Kindertagesstätten … erlebten.
Für sie war der Tag der Veröffentlichung des Missbrauchsberichtes ein schwerer Tag. EINE Frau aus einer Karlsruher Seelsorgeeinheit trieb die Frage um, wie kirchlich Betroffenen an diesem Tag die Solidarität der christlichen Gemeinden vermittelt werden könnte. Sie weitete den Blick natürlich auch auf jene Menschen, die in ihren Familien und im Nahbereich sexualisierte Gewalt erleben mussten. Und ihr war auch bewusst, dass nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene sexualisierte Gewalt in unterschiedlichen Kontexten, auch kirchlichen, erleben. Dass zu jedem Opfer, zu jeder Gewaltüberlebenden weitere Menschen als sekundär Betroffene hinzukommen – Eltern, Geschwister, Partner*innen, Kinder, Freunde, Arbeitskolleg*innen… .– nahm die Frau ebenso wahr wie die Tatsache, dass nicht alle Missbrauchsbetroffenen die Folgen der Gewalterfahrung überlebt haben und Familien damit zurechtkommen müssen, dass ein Familienmitglied nicht mehr da ist.
Die Frau sprach andere haupt- und ehrenamtliche Mitchristinnen aus drei Seelsorgeeinheiten in Karlsruhe – Allerheiligen, St. Nikolaus, Südwest -, der Initiative GottesSuche und dem Karlsruher Stadtkloster an. Unter den Angesprochenen waren auch Betroffene, die sich Gedanken machten darüber, wie ein öffentliches Solidarisches Gebet gestaltet werden könnte.

Als Ort kam die Innenstadtkirche St. Stefan in den Blick. Weil kirchlich Betroffene oft große Schwierigkeiten haben, einen Kirchenraum zu betreten, wurde der Platz vor der Kirche gewählt.
Als Titel wählten wir „Das schreit zum Himmel“, ein geflügeltes Wort, das dem ersten Buch der Bibel entnommen ist: „Gott sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders erhebt seine Stimme und schreit zu mir vom Erdboden“ (Gen 4,10). Direkt nach den biblischen Paradieserzählungen ermordet Kain seinen Menschenbruder Abel. Damit trägt die Bibel der bis heute geltenden Erfahrung Rechnung, dass Menschen einander Gewalt antun. Zugleich erscheint Gott als derjenige, der den Schrei Abels und aller Menschen, die Gewalt erleben, hört. Das ist die Hoffnung in der Vorbereitungsgruppe: Dass Gott – und die Menschen – den Schrei der Missbrauchsbetroffenen und ihrer Mitbetroffenen hören mögen.
Glockenläuten zur Todesstunde Jesu
Um 15 Uhr – zur Todesstunde Jesu – läutete je eine Glocke in den Karlsruher Gemeinden. Das Geläut erinnert an Jesus, der selbst ein Opfer von Menschengewalt war.
Klagemauer
Die vor St. Stephan aufgebaute Klagemauer führte zu Fragen und vielen Gesprächen mit Vorübergehenden. Sie lud Passant*innen ein, alles, was sie im Blick auf Missbrauchsbetroffene bewegte – ihre Klagen, Bitten und Wünsche – der Klagemauer anzuvertrauen. Später würden Mitbetende Teile der Klagemauer in ihre Gemeinden mitnehmen und dort einen Raum für Klagen schaffen – für Missbrauchsbetroffene und für die Klagen aller Menschen in Not.
Vor Beginn des Gebetes wurden Scherben und Steine als Zeichen für das, was in Missbrauchsbetroffenen beschädigt und zerstört wurde, verteilt.

Das Gebet
Um 17:30 Uhr fand das Gebet statt. Den Ablauf notiere ich hier – vielleicht können die Texte und Lieder Anregung sein für Gemeinden zur Gestaltung von Gottesdiensten – auch wenn Gemeinden ihren eigenen Weg des Betens mit Betroffenen finden werden.
Begrüßung
M(oderation): Wir begrüßen Sie herzlich zum solidarischen Gebet mit Missbrauchsbetroffenen und -mitbetroffenen. Anlass ist die heutige Veröffentlichung des Abschlussberichts der unabhängigen Arbeitsgruppe „Machtstrukturen und Aktenanalyse“ zum früheren Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum Freiburg. Ob dieser Bericht tatsächlich offene Fragen der Betroffenen beantwortet, Verantwortlichkeiten für Vertuschungen und Versäumnisse benennt und hilft, besser zu verstehen, welche Strukturen Missbrauch ermöglicht und begünstigt haben, wird sich zeigen, wenn wir Zeit hatten, ihn zu lesen. Unabhängig davon erschien es uns wichtig, gerade heute einen Schritt zu machen und einerseits die Sprachlosigkeit zu überwinden und andererseits in gemeinsamer Stille und im Gebet den kirchlichen und außerkirchlichen Missbrauchsbetroffenen und -mitbetroffenen einen Platz in unserer Mitte zu geben.
E(rklärung): Wir beginnen diese Gebetszeit nicht – im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes – weil … wir ahnen, wie scher es war, wie schwer es ist, wie schwer es sein kann mit dem Vater, dem Pater in einem Raum zu sein; weil wir wissen, dass die Nennung des Namens ‚Vater‘ Verletzungen berührt, die es schwer, die es unmöglich machen, da zu sein. Dennoch wollen wir dieses Gebet nicht ohne Gott beginnen. Und so wollen wir diese Gebetszeit im Zeichen des Kreuzes, im Stillen beginnen!B.: In diesem Gebet bringen wir unsere Solidarität mit allen von Missbrauch betroffenen und Mitbetroffen, nicht nur im Kontext der Kirche, sondern in verschiedensten Lebenslagen und Umfeldern zum Ausdruck. Woran kann man sich noch festhalten, wenn man missbraucht wurde? Wenn Macht unabhängig ob kirchlich, familiär, in der Freizeit, … missbraucht wurde? Wenn alles zerbricht?
Lied: Woran hältst du dich fest, wenn alles zerbricht?“ Lotte
E.: Wir haben kein Kyrie gesungen, sondern das Lied von Lotte gehört. Wir haben uns mit ihr und all den Betroffenen und Mitbetroffenen von Missbrauch hier hingestellt, so wie wir sind.
Bericht eines Betroffenen
M.: „So lange her, dass ich gelacht hab‘. Ich will wieder sein, wer ich war, Bevor du in mein Leben kamst, Denn jetzt sind nur noch Teile davon da“ hat Lotte gerade gesungen. Über die zwei Leben – vor und nach dem Missbrauch – sprach auch ein Betroffener 2019 im Vatikan. In seinem Bericht benennt er den Schmerz, den die Gewissheit des Nicht-Verstanden-Werdens auslöst.
E.: Kein Bibeltext, der Betroffene von Missbrauch hilflos und ohnmächtig zurücklässt; in den Kirchenbänken zwischen all denen sitzend, deren Welt und Leben weitergeht, als wäre nichts geschehen, wissend da sind viele, die das erlebt haben, wissend keiner versteht, keiner spricht. Kein Bibeltext. Ein Text der versteht.
„Missbrauch jeder Art ist die schlimmste Demütigung, die man einem Menschen zufügen kann. Es bedeutet, erkennen zu müssen, dass man sich gegen die Übermacht des Täters nicht zur Wehr setzen kann, ihm ausgeliefert ist. Du kannst dem, was da passiert, nicht entkommen, du musst es über dich ergehen lassen, egal was oder wie schlimm es ist. …“
Stille vor der Klagemauer:
M.: Gemeinsam haben wir im Verlauf des Nachmittags eine Klagemauer aufgebaut. Mit ihr drücken wir allen Schmerz, alles Schreien, alle Sprachlosigkeit, alle Ohnmacht, alles Bitten aus und tragen unsere persönlichen Klagen und Bitten auch vor Gott. Nun möchten wir mit Ihnen in Stille unsere Solidarität mit Missbrauchsbetroffenen und -mitbetroffenen zum Ausdruck bringen, den Anspruch auf Entschädigung unterstützen, das Entsetzen über Vertuschungen und Versäumnisse zeigen, der bereits verstorbenen Missbrauchsbetroffenen gedenken, neben den ca 600 bereits bekannten Betroffenen von Missbrauch in katholischen Einrichtungen im Erzbistum Freiburg auch die Dunkelziffer veranschaulichen und Ihnen die Möglichkeit geben, im Stillen Ihr Klagen und Ihre Bitten auf die Klagemauer zu legen, indem Sie eine Scherbe oder einen Stein auf oder vor die Klagemauer legen.
Ein Klagepsalm
Eine fünfzigjährige betroffene Frau aus der Inititative GottesSuche hat über ihr Leben im Angesicht Gottes nachgedacht und es in einem Psalm zu Gott hin, aber auch zu ihren Mitmenschen hin zur Sprache gebracht.
Hilf, Gott, in unserer Not
Wie oft zerspringt die Seele
in tausend der Erinnerungssplitter
ertrinkt in ihren ungeweinten Tränen
verliert den Boden
fällt und fällt.
Gott, du unbegreiflich, schweigend, unsichtbare Kraft
Man sagt, du seist allmächtig
willst uns stets Gutes, Leben, Liebe
doch wenn das stimmt
dann seh‘ ich’s nicht.
Um mich herum Zerstörung, Missbrauch und Gewalt
du greifst nicht ein
lässt uns allein.
Du siehst sie doch, die blauen Flecken
geschund’ne Körper tief verstecktes Leid
du spürst die angsterstarrten Kinderseelen
verzweifelt wütende Erwachsene du weißt um das bedrohte Leben
in mir und meinem Gegenüber
du hörst die Klagen, Schreie, Bitten
und greifst nicht ein.
Warum, oh Gott?
Ich schau hinaus
weit über mich hinweg
such meinen Weg,
den Ruf, dem ich nun folgen soll
den Menschen, der mir nahe ist
dem ich vertrau, der mich nun braucht
Ich such dich, Gott, du Lebenskraft im
Mensch, im Wind im
Tier, der blühenden Natur im
Tanz und Paukenschlag
in Farbe, Wort und der Musik.
Nein, ich versteh dich nicht und
trotzdem weiß
ich es genau, ganz tief in mir du
bist im Leben, Sterben,
Freud und Leid
du bist bei mir, ich bin bei dir
© Christiane Lange – Initiative GottesSuche
M.: Im Psalm wurde unser Zweifeln und unsere Verzweiflung in Worte gefasst. Der Psalm schloss mit der Zuversicht „du bist bei mir, ich bin bei dir“. Wir haben viele Bitten, jedoch reicht das bloße „Fürbitten“-Vorlesen nicht. Im Lied von Lotte haben wir von der Scham gehört, davon, nicht mehr atmen zu können. Wir können nicht alle schweigen, auch wenn uns die Missbrauchstaten sprachlos machen. Es braucht uns alle, die gemeinsam den Zum-Schweigen-Gebrachten eine Stimme geben. Den Wunsch darum tragen wir in den Brauchbitten von Carola Moosbach vor.
Brauchbitten (Carola Moosbach)
Wir lesen keine Fürbitten wie sonst, in denen die Betroffenen von Missbrauch mit Glück ein oder zweimal im Jahr vorkommen, die viele nicht hören, weil sie gar nicht mehr in die Kirche kommen, oder kommen können, es nicht in die Kirche hineinschaffen. Wir lesen Brauchbitten für alle anderen. Geben wir unsere Stimme.
Wir brauchen welche
die weinen können3
Kein Vater unser
E.: Kein ‚Vater Unser‘ kein ‚vergib uns, wie auch wir‘ – nicht (hier, nicht heute, diesmal nicht) – weil wir wissen, wie schwer dieses Gebet für Betroffene von Missbrauch ist, wie groß die Sehnsucht, wie groß die Leerstelle. Und wir wissen, diese Leerstelle bleibt, auch wenn wir es nicht beten. Zwei Welten. Legen wir etwas daneben, versuchen wir uns festzuhalten im Magnifikat.
aber ein Magnifikat
Wort vor dem Segen
M.: Dieses Gebet sollte auch zum Ausdruck bringen, dass es mehr als ein Gutachten auf Papier braucht, dass wir gemeinsam (Betroffene, Mitbetroffene und Nicht-Betroffene) die Taten nie vergessen und gemeinsam für Entschädigung und Unterstützung eintreten. Solidarität mit kirchlichen und außerkirchlichen Missbrauchsbetroffenen ist tägliche Aufgabe nicht nur der Kirchenleitung, sondern auch der christlichen Gemeinden und der Gesellschaft, denn die Betroffenen sind ja (längst) mitten in den Kirchengemeinden, im Kollegium, in den Schulklassen. Wir laden Sie ein, einen Stein mit in Ihre Gemeinde zu nehmen und dort zu überlegen, wie Sie Solidarität mit Missbrauchsbetroffenen und Mitbetroffene im Alltag zeigen, Gewalt in Worte fassen und vor Ort Platz dafür schaffen. Zum Abschluss des Gebets danke ich allen, die dieses Gebet ermöglicht, mitvorbereitet und durchgeführt haben. Nach dem Segen und einer kurzen Stille laden wir Sie herzlich zu einem informierenden Austausch ein, in den Erika Kerstner, die die Initiative GottesSuche gegründet hat, einführt. Egal, ob Sie direkt nach dem Gebet gehen oder noch bleiben, möge Gottes Segen Sie beschützen:
Segen: Sabine Nägeli: Gott, der dich wahrnimmt
Einladung zum Gespräch
Vielen Dank, dass Sie mitgebetet haben mit Missbrauchsbetroffenen und für sie. Es ist ein Zeichen der Hoffnung für Betroffene und ihre Familien, wenn Gewalt, auch sexualisierte und spirituelle Gewalt, zur Sprache kommt. Für Betroffene wird Zugehörigkeit erlebbar in jedem Menschen, der Anteil nimmt an ihrem Leben. Umgekehrt höre ich von vielen Nichtbetroffenen, wie schwer ihnen der Gedanke fällt, mit Betroffenen zu sprechen. Sie fühlen sich rat- und hilflos. In Wirklichkeit jedoch sprechen Nichtbetroffene längst mit Betroffen – ohne es allerdings zu wissen, denn Betroffene tragen ja kein Etikett auf der Stirn. Wer einen durchschnittlichen Bekanntenkreis von 100 Menschen hat, kennt 14 Betroffene allein von Kindesmissbrauch, 9 Frauen und 5 Männer und geht mit ihnen „ganz normal“ um. Das wünschen sich Betroffene, dass ihre Mitmenschen und Mitchrist*innen „ganz normal“ mit ihnen umgehen.
Von Gewalt sprechen lernen ist ein Schritt hin zum Durchbrechen des Tabus. Die Sprachlosigkeit isoliert Betroffene und hält sie in einem quälenden Schweigen. Wer von Gewalt spricht, signalisiert Betroffenen, dass sie ihre eigene Gewalterfahrung nicht verschweigen müssen. Einmal sagte mir eine Betroffene: „Wenn es möglich ist, von Gewalt genauso selbstverständlich zu sprechen wie von einem gebrochenen Bein oder einer schweren Krankheit, dann gehören auch wir Betroffenen dazu.“ Wir müssen nicht auf die Bischöfe warten, jede und jeder kann etwas dazu tun, dass das Leben Betroffener mit anhaltenden Gewaltfolgen ein wenig leichter wird. Ich lade Sie also ein, von Gewalt zu sprechen:
Von den Ängsten Nichtbetroffener vor Gesprächen mit Betroffenen, über die lang anhaltenden Folgen der Gewalt, über die Wünsche Betroffener an ihre Mitmenschen und Mitchrist*innen.
Nachwort
In der Vorbereitungsgruppe wuchs der Wunsch an Mitchrist*innen und Gemeinden, dass sie sich weiter über das Leben von Missbrauchsbetroffenen und -mitbetroffenen informieren, sich kundig machen über Traumatisierung durch Menschengewalt, über die langfristigen Folgen von Gewalt und dass sie die Heilige Schrift neu lesen lernen aus der Perspektive der Opfer. Im Karlsruher Stadtkloster ist am 7. Juli 2023 bereits ein Abend geplant, der einen biblischen Gewalttext in den Blick nimmt.

Ein Teil der Klagemauer wurde in St. Michael, Karlsruhe, aufgebaut und dort in Gottesdienste eingebunden.
Quellen:
Ein Violinist, der als Betroffener in der Bußliturgie des vatikanischen Antimissbrauchsgipfels am 23, Februar 2019 sprach: Video Penitential Liturgy, Sala Regia, ab min 33. Wir haben die dt. Übersetzung gelesen.
Carola Moosbach: Ins leuchtende Du. Aufstandsgebete und Gottespoesie. Hg. von Bärbel Fünfsinn une Aurica Jax, Berlin 2021, S. 54